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KEN YAMAMOTO


26. Juni 2014

Poesie und Webtypografie

Lesezeit: 4 Minuten, 28 Sekunden


M anchmal erschrecke ich mich vor mir selbst. Allgemein gehe ich gerne davon aus, dass ich ein vielschichtiges und komplexes Wesen bin. Dann aber werde ich wieder mit der Tatsache konfrontiert, dass ich doch sehr einfach gestrickt bin. Gerade was visuelle Dinge angeht. Gefällt mir etwas optisch nicht, verliere ich schnell das Interesse. Ich weiß, jetzt klinge ich furchtbar oberflächlich.

Genau darum geht es aber in den folgenden Absätzen: Um Oberfläche. Präziser ausgedrückt wird es hier nicht um den Gehalt literarischer Texte, sondern um die Qualität ihrer typografischen Erscheinung im Internet gehen. Als blutiger Laie werde ich mich also auf offensichtliche Griffe ins Designklo und gelungene Gegenbeispiele beschränken. Und bevor sich einer beschwert: Ja, auch hier finden sich typografische No-Gos – aber sie schmerzen nicht allzu sehr.

Gute Typographie bemerkt man so wenig wie gute Luft zum Atmen. Schlechte merkt man erst, wenn es einem stinkt.
- Kurt Weidemann

Poesie und Typografie stehen seit jeher in engster Beziehung. Immer wieder wurde darüber hinaus versucht, die beiden Kunstformen miteinander zu verschmelzen. Gerade der Dadaismus gab sich dahingehend besonders experimentierfreudig. Denken wir z.B. an Schwitters typografische Gedichte.


Ken Yamamoto


Bis heute nutzen Künstler die gestalterischen Mittel der Typografie, um Gedichte kunstvoll in Szene zu setzen. Ein Beispiel ist das von Ronnie Bruce in einem Poetry Clip umgesetzte Gedicht des amerikanischen Slam Poeten Taylor Mali:





Hier aber geht es nicht um Literaturgeschichte. Es geht mehr um Grenzen des guten Geschmacks. Seit langem bemühen sich Typografen, ihr Wissen auf die Darstellung von Texten im Web zu übertragen. Dieses Vorhaben war allein technisch nicht immer leicht zu realisieren und ist noch im Prozess befindlich. Immer aufs Neue stellen sich Herausforderungen; z.B. die Tatsache ständig wechselnder Bildschirmgrößen und responsiven Designs. Interessierten empfehle ich den Artikel Kleine Geschichte der Webtypografie.

Sicher, es ist viel passiert seit den wilden Internet-90ern, als mit Besucherzählern, Buttons, grellen Hintergrundfarben und blinkenden Laufschriften vollgeballerte Webseiten die Regel darstellten. Ja, Geschmack ändert sich und mir ist durchaus bewusst, dass mir das durchschnittliche Webdesign Marke Eigenbau dieser Jahre im Nachhinein doppelt scheiße vorkommt.


Ken Yamamoto


Fest steht: Auch wenn sich Moden ändern, finden sich doch gewisse Konstanten des guten Geschmacks. Schließlich ist Typografie ein althergebrachtes Handwerk. Ich denke beispielsweise, ich kann frei heraus behaupten, dass Comic Sans eine Lyrik- wenn nicht sogar hochkulturfeindliche Schriftart darstellt. Die von Vincent Connare 1994 für Microsoft entwickelte Comic Sans MS zählt unbestritten zu den verhasstesten Schriften unserer Zeit. Zahllose Artikel und Webseiten wie comic sans must die wurden ihr gewidmet. Die Geschmacksverirrung aber liegt weniger auf Seiten der Schrift, als bei den Anwendern, die sie ihrer ursprünglichen Funktion berauben. Als eine der Standardschriften des Microsoft-Betriebssystems zählt sie seit ihrer Erfindung zu den meistverwendetsten und fand ihren Weg bedauerlicherweise sogar bis auf Grabsteine.

Comic Sans was NOT designed as a typeface but as a solution to a problem with the often overlooked part of a computer program's interface (…) There was no intention to include the font in other applications other than those designed for children.
- V. Connare

Und manchmal scheint typografisch alles in bester Ordnung, dann aber verweigert die gestalterische Umgebung jegliche Möglichkeit der Kontemplation. Nehmen wir folgendes Beispiel: Hier wird Bachmanns Gedicht 'Dunkles zu sagen' online publiziert. Es beginnt mit den Versen:

Wie Orpheus spiel ich / auf den Saiten des Lebens den Tod / und in die Schönheit der Erde / und deiner Augen, die den Himmel verwalten, / weiß ich nur Dunkles zu sagen.'

Ich kann mir nicht helfen. Angesichts des Designs dieser Seite weiß auch ich nur Dunkles zu sagen. Der Widerspruch zwischen Gedicht und Präsentation macht mich fertig. Ein bisschen, als würde Britney Spears auf einem ihrer Konzerte Celans Todesfuge rezitieren.


Ken Yamamoto


Den wenigsten Seiten gelingt alles. Ein erfreuliches Ausnahmebeispiel bildet etwa lyrikline.org. Die Neutralität des Grunddesigns der Webseite unterstützt den Inhalt auf perfekte Art und Weise. Der gezielte Einsatz von Leere gibt den Gedichten Raum zum Atmen. Die Benutzerführung ist klar und verständlich. Auf Wunsch bzw. Klick kann der Leser sogar die Ansicht ändern, um alle Informationen, die lediglich der Navigation dienen, auszublenden. Diese ist durchweg serifenlos in Arial gehalten, der Text selbst in Georgia, einer der klassischen websicheren Serifenschriften. Auch wenn trendhungrige Webdesigner letztere nicht mehr sehen können, stellt sie doch noch immer eine kugel- und idiotensichere Lösung dar.


Ken Yamamoto
Ken Yamamoto


Allen grundsätzlich Typografie-Interessierten empfehle ich die großartige Publikation The Elements of Typographic Style des kanadischen Poeten und Typografen Robert Bringhurst. Wer das Ganze noch einen Schritt in Richtung Webtypografie weiterdenken möchte, dem empfehle ich die Onlinepublikationen The Elements of Typographic Style Applied to the Web, On Web Typography sowie Better web typography in 13 simple steps.


URL: http://www.kenyamamoto.de/notizbuch/Poesie-und-Webtypografie
Tags: #Notiz #Poesie #Webtypografie


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